Sportstadt Chemnitz?
 
    
 
 
  Der Begriff provoziert.  
Einige Chemnitzer Zeitgenossen zucken mit den Achseln, weil sie das Gerede von der "Sportstadt Chemnitz" für eine Modeerscheinung der Nachwendezeit halten.  
Der um das Stadtmarketing besorgte Politiker runzelt die Stirn, weil Chemnitz sich vorrangig als Wirtschaftsstandort und innovative Industriestadt profilieren soll.  
Manch andere Großstadt zieht die Augenbrauen erstaunt hoch, weil sie sich ebenfalls für eine Sportstadt hält - und für eine viel bedeutendere als Chemnitz.  

Doch keine Sorge! Der Chemnitzer Sport will sich nicht vor andere wichtige Bereiche der Stadt drängeln, doch niemand sollte in Frage stellen, daß der Sport schon lange seinen festen Platz im Bewußtsein der Chemnitzerinnen und Chemnitzer gefunden hat und daß er den Namen der Stadt in alle Welt trägt. Was die "Konkurrenten" betrifft, so gibt es in Deutschland eine ganze Reihe von Großstädten, die sich wie Chemnitz mit Fug und Recht als Sportstädte bezeichnen können; aber nur ganz wenige, wie z. B. Leipzig oder Berlin, können von sich behaupten, daß sie besonders herausragen.  
  

Sportstadt - anno 1911  

Daß die Stadt Chemnitz auf ihre Leistungen im Sport stolz ist und daß sie damit gerne wirbt und mit diesem Argument Besucher anlocken will, das hat eine lange Tradition. In den zwanziger Jahren fällt der Begriff "Sportstadt" des öfteren; der früheste Beleg, den wir gefunden haben, datiert sogar von 1911. Damals widmete der offizielle Stadtführer ein ganzes Kapitel dem Thema "Chemnitz als Versammlungs- und Sportstadt". Im selben Jahr erschien auch eine Fremdenverkehrs-Broschüre zu einer einzelnen Sportart. Wenn Sie auf Radsport oder Leichtathletik tippen, dann liegen Sie falsch. Chemnitz empfahl sich damals als Wintersportort!  

Fremdenverkehrs-Broschüre, 1911Abfahrt vom Kaßberg? Slalom am Schloßberg? Langlauf nach Rabenstein? Manchen wird diese Broschüre zunächst überraschen. Doch die Zusammenhänge sind klar und klar und plausibel: In Deutschland begann der Skisport um die Jahrhundertwende, und zwar zunächst als ein Sport von Großstädtern, zumeist aus gehobenen Schichten. Es lag daher nahe, daß die ersten Skisportler - in Chemnitz waren dies übrigens norwegische Ingenieure aus den Hartmann-Werken - sich am Wohnort zusammenschlossen und Vereine gründeten. Vor allem in den gebirgsnahen Großstädten wie München, Chemnitz oder Freiburg lebten die Menschen, die nicht nur im jährlichen Winterurlaub, sondern auch an den Wochenenden ihre Skier auspacken konnten. Sie mußten allerdings selbst dafür sorgen, daß die für ihren Sport notwendige Infrastruktur geschaffen wurde, da ihr Anliegen bei der Bevölkerung im Gebirge oft auf Unverständnis oder Ablehnung stieß. Der 1901 gegründete Ski-Klub Chemnitz errichtete deshalb auf dem Geiersberg bei Kemtau seinen "Sprunghügel" (Sprungschanze) und seine "Baude" (Skihütte).  

Skispringen am Geiersberg, 1911 
Wer anzweifelt, daß Chemnitz ein Zentrum des frühen Skisports war, braucht nur einen Blick in die Listen der Sieger zu werfen und findet dort z. B. den Freiherrn Hans Edler von der Planitz, Leutnant im kaiserlichen Ulanenregiment; nach zahlreichen Erfolgen in der nordischen Kombination vor 1914 und seinem Skisprungweltrekord von 51,40 m wurde er 1920 Deutscher Meister im Skispringen.  
  

Turnen und Sport  

Das Werben für Chemnitz als Sportstadt stieß damals nicht nur auf offene Ohren. Zu denen, die 1911 zu Recht murren konnten, zählten zweifellos die Turner. Denn lange bevor in Deutschland von "Sport" die Rede war, haben die Turner Chemnitz zu nationalem Ansehen verholfen. Bei den Statistiken der deutschen Turnerschaft, die sich auf den Anteil der Turnvereinsmitglieder an der Gesamtbevölkerung stützen, wurde Chemnitz um die Jahrhundertwende unter den 20 vorbildlichen "Turnerstädten" genannt. Auch in Sachsen war die Position stark. Von den fünf sächsischen Turnfesten wurden drei in Chemnitz ausgerichtet: 1882 mit 8.000 Teilnehmern, 1905 mit 14.000 Teilnehmern und 1930 mit 40.000 Teilnehmern.  

Die Formulierung "Sportstadt" enthält  zwar den heute üblichen weiten Begriff von Sport, der - wie z. B. bei den olympischen Spielen - Turnen als eine Sportart unter vielen umfaßt. In der historischen  Darstellung auf dieser Homepage kommen allerdings beide Richtungen der Körperkultur zu ihrem historischen Recht: die deutsche, von Friedrich Ludwig Jahn geprägte Tradition des Turnens, und die aus England stammenden "sports" wie Leichtathletik, Fußball oder Skifahren, die im späten 19. Jahrhundert in Deutschland rasch großen Anklang fanden. Auch sonst wird ein sehr breiter Einblick geboten. Ob Spitzensport oder Breitensport, ob medienverwöhnt oder unpopulär, ob olympiareif oder "in", ob Stadion- oder Straßensport - bei den Texten wie bei der Auswahl von Objekten wurde auf ein umfassendes Bild des Chemnitzer Sports Wert gelegt.  
  

Sportgeschichte  

Die beiden Broschüren vor 1911 zeigen, daß Sportgeschichte uns Stadtführer, 1911oft überrascht. Sport lebt stark vom aktuellen Wettkampf oder Rekord; was früher war, wird rasch vergessen. Nicht nur die Erinnerung an die Meister von gestern verblaßt, sondern auch die schnellebige und wechselvolle Entwicklung der Sportarten. Eine historische Ausstellung muß daher nicht nur die Disziplinen zeigen, die heute mit Chemnitz assoziiert werden und in denen heute die olympischen Medaillen errungen werden wie z. B. Leichtathletik, Radsport, Eiskunstlauf und Gewichtheben. Sie muß genauso daran erinnern, was damals bedeutend war. Der Stadtführer von 1911 beginnt z. B. sein Sportstadt-Kapitel mit der "Eroberung der Luft" (Ballonfahren) und nennt unter anderem Wandern, Reiten, Tennis, Golf, Hockey, Rudern, Segeln und Skilaufen.  

Die Anfänge des Wintersports als exklusiver Großstadtsport sind ebenso ein Thema der folgenden Seiten wie die Tatsache, daß Ausländer diesen Sport erst nach Chemnitz gebracht haben und daß dieser noch junge Sport als Träger für die Stadtwerbung eingesetzt wurde. Allgemein gesagt: Es geht um die Wurzeln dessen, was wir heute Sport nennen und nach die Bedürfnisse, die er befriedigt - und damit um die Lebensbedingungen der Menschen, die politischen Lehren oder die Visionen vom menschlichen Leben. All dies hat den Sport entscheidend und in verschiedenen Epochen sehr unterschiedlich geprägt.  Auch die umgekehrte Perspektive ist wichtig: nämlich die Frage, wie Sport unser tägliches Leben beeinflußt (von der Mode bis zur Morgengymnastik im Radio) oder auch unsere Werte verändert ( z. B. "jugendlich-sportlich" oder "fair").  

Wie in der Broschüre von 1911 geht es nicht in erster Linie um die Geschichte von großen Sportlern, von Rekorden oder Vereinen - sondern um die Stadt Chemnitz insgesamt. Eine "Sportstadt" ist mehr als die Summe aller einzelnen sportlichen Leistungen, Institutionen und Ereignisse - sie ist eine Stadt, in der Sport zum festen Bestandteil des öffentlichen Lebens und des Selbstbewußtseins geworden ist.   

 
 
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